Virtuelles Objekt des Monats

Virtueller Elefant

Eine Projektion, die die Abwesenheit des Tieres inszeniert

Ina Bolinski

Dezember 2025
© SZ vom 13.09.2019

Entstehungsgeschichte: Was ist der virtuelle Elefant und woher kommt er?

Der virtuelle Elefant ist Teil eines künstlerisch-technologischen Projekts, das auf physisch anwesende Tiere im Zirkus vollständig verzichtet. Statt Dressurnummern mit lebendigen Tieren treten z.B. im Zirkus Roncalli seit 2018 digital animierte Projektionen in Erscheinung: ein lebensgroßer Elefant aus Licht, Bewegung und Sound, inszeniert, choreografiert und medial gerahmt (vgl. Stöckel 2023).

Grundlage sind 3D-Modelle, die mittels Motion-Capturing-Verfahren und dramaturgischen Arrangements das tierliche Bewegungsmuster simulieren. Materialisiert wird der virtuelle Elefant durch eine spezifische medientechnische Anordnung: Die Projektion des Elefanten erscheint auf einem speziell entwickelten Fadenvorhang – einer hauchdünnen Gaze, die die Manege umspannt. Im Dunkeln beinahe unsichtbar, bildet dieses feinmaschige Netz aus Textilfasern und Luft eine durchlässige, hybride Fläche. Es trägt das projizierte Bild, ohne selbst in den Vordergrund zu treten. Der projizierte, virtuelle Elefant steht exemplarisch für eine Verschiebung innerhalb der Zirkuskultur: Weg von der lebendigen Tierkörperlichkeit, hin zur Darstellung von Tierlichkeit als visuelle und affektive Erfahrung. Er ist nicht nur Produkt technischer Innovationen, sondern ebenso einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch, Tier und Unterhaltung.

 

Kompetenzen: Was kann der virtuelle Elefant?

Der virtuelle Elefant ist ein hybrides Objekt, das die Grenzen zwischen medientechnischer Simulation, kultureller Symbolik und affektiver Wahrnehmung unterläuft. Sein Auftritt basiert nicht auf Täuschung, sondern auf einer bewusst inszenierten Medialität, die gerade durch ihre Künstlichkeit wirkt. Nicht als Tier, sondern als Effekt von Dispositiven tritt der Elefant auf, als audiovisuelle Präsenz, die aus dem Zusammenspiel von Projektion und Erwartung hervorgeht. Im Zentrum steht hier ein spezifisches Konzept von Medialität: Der virtuelle Elefant verweist auf sich selbst als mediales Konstrukt, auf seine Bedingtheit durch digitale Bildwelten, auf die Künstlichkeit seiner Erscheinung. In der Sichtbarkeit seiner Virtualität liegt epistemischer Gehalt: Die Erfahrung des virtuellen Elefanten macht die Prozesse – als Transformation von Materialität in Affekt, von Körper in Code, von Präsenz in Projektion – transparent.

Das zentrale Moment besteht dabei in einer Verschiebung von Präsenz zur Repräsentation. Der virtuelle Elefant zeigt keinen Elefanten, sondern macht ein Bild des Elefanten gegenwärtig, das von realer Tierlichkeit entkoppelt ist, ohne sie jedoch zu negieren. Die Leerstelle des Tierkörpers wird zum Ort medialer Produktion, der Elefant wird zum medialen Ereignis, indem Alterität performativ hervorgebracht sowie durch technologische Strukturen und visuelle Inszenierung vermittelt wird.

 

Erkenntnisse: Was zeigt der virtuelle Elefanten?

Der virtuelle Elefant ist kulturelles Symptom eines medienästhetischen und ethischen Wandels. Er ersetzt nicht einfach das Tier, sondern transformiert dessen Funktion innerhalb der populären Aufführungskultur – und verweist damit auf eine tiefgreifende Verschiebung in der Mensch-Tier-Beziehung, die Medien mit einzuschließen vermag. Wo früher das lebendige Tier im Zentrum des Spektakels stand, erscheint nun seine Projektion (vgl. Schwalm 2007).

Aus Sicht der Critical Animal Studies, die die strukturelle Gewalt und symbolische Repräsentation von Tieren in menschlichen Kultursystemen analysieren und kritisieren, wird das Zirkustier nicht bloß unterhaltendes Objekt, sondern Produkt disziplinierender und spektakularisierender Machtpraktiken. Gerade der Elefant – als ikonisches Tier der Zirkustradition – verkörpert dabei die Spannung zwischen Wildheit und Beherrschung, zwischen imposanter Körperlichkeit und kultureller Zähmung (vgl. Wilson 2017). Er ist das Resultat von Dressur, Zwang, Kontrolle, Zurichtung und Entfremdung und damit eine künstlich formatierte Natürlichkeit. Der virtuelle Elefant befreit wohl das echte Tier von körperlicher Ausbeutung, aber er trägt gleichzeitig die Erinnerung an genau diese Ausbeutung weiter. Er steht für einen technologischen Fortschritt, der ethisch motiviert ist, zugleich aber auf eine kulturelle Praxis verweist, die weiterhin von der Idee des dressiertenTieres geprägt ist.

Die mediale Tierfigur wirkt zwar immateriell, beruht jedoch in ihrer Sichtbarkeit und Funktion auf komplexen technischen, infrastrukturellen und materiellen Voraussetzungen: u.a. Fadenvorhänge, Projektoren, digitale Animationsprozesse und entsprechende Hardware-Logistik. Der virtuelle Elefant verweist somit auf eine neue Form der »Zurichtung« – nicht des Körpers, sondern des Bildes. Dressur wird hier nicht abgeschafft, sondern durch das Verhältnis von Technik, Wahrnehmung und kultureller Codierung verstetigt. Die »dematerialisierte« Tierfigur ist gleichzeitig Ergebnis eines hochgradig materiellen Apparats. In dieser Konstellation wird der virtuelle Elefant nicht nur zum Symbol ethischer Transformation, sondern auch zum Indikator für eine neue Verschiebung: von der physischen Ausbeutung des tierlichen Körpers hin zur infrastrukturellen Durchformung medialer Umwelten. Die Virtualisierung des Zirkustiers ersetzt die physische Präsenz durch ein anderes Regime von Materialität – eines, das durch Energieverbrauch, Rechenleistung und technologische Infrastrukturen geprägt ist. Die virtuelle Tierfigur steht also nicht nur für ethischen Fortschritt, sondern auch für neue Ambivalenzen: zwischen Ökologie und Spektakel, Nachhaltigkeit und Ressourcenverbrauch, Tierethik und Medienlogik.

 

Literatur:

Schwalm, Tanja (2007): »›No Circus Without Animals‹?: Animal Acts and Ideology in the Virtual Circus«, in: Laurence Simmons/Philip Armstrong (Hg.), Knowing Animals, Leiden: Brill, S.  79-104.

Stöckel, Marc (2023): »Circus Roncalli: Deutscher Zirkus zeigt Tiere nur noch als Videoprojektion«, Golem.de, 11. September2023, online unter: https://www.golem.de/news/circus-roncalli-deutscher‑zirkus‑zeigt‑tiere‑nur‑noch‑als‑hologramme‑2309‑177536.html.

Wilson, David A. H. (2017): »Circus Animals and the Illusion of Wildness«, in: Early Popular Visual Culture 15(3) 2017, S. 350–366.

Weiterführende Literatur:

Bolinski, Ina/Hawranke, Thomas/Rieger, Stefan (Hg.) (2024): Virtuelle Tiere. Lebewesen zwischen Code und Kreatur, Bielefeld: transcript.

DeMello, Margo (2012): Animals and Society: An Introduction to Human-Animal Studies, Columbia University Press.

Tait, Peta (2021): »History of Circus Animals«, in: Mieke Roscher/André Krebber/Bettina Bock von Wülfingen (Hg.), Handbook ofHistorical Animal Studies, Berlin/Boston: De Gruyter, S. 457–470.

Vogl-Bienek, Ludwig (2022): »Performative Configurations of the Historical Art of Projection. A media-archaeological approach to the history of the magic lantern and the screen in live performance«, in: eLaterna Companion, S. 1-28.

Bildquelle:

Hordych, Barbara (2019): »Tricks in der Manege. Elefanten als Hologramme«, in: SZ vom 13.09.2019, online unter: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/elefanten-als-hologramme-tricks-in-der-manege-1.4598254.

Das Virtuelle Objekt des Monats

Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein »Virtuelles Objekt des Monats« (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 »Virtuelle Lebenswelten« vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.

Das »Virtuelle Objekt des Monats« ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.