Virtuelles Objekt des Monats

Virtuelle Musterwohnung

Ein Objekt der Zeitökonomie

Mathias Denecke

01. Juli 2025
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Entstehungsgeschichte: Was ist die virtuelle Musterwohnung?

Das Projekt Leben – Pflege – Digital bündelt Informationsangebote zum Bereich Digitalisierung und Pflege. Gefördert wird das Projekt von einem paritätischen Wohlfahrtsverband und der Berliner Senats­verwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege, die im Rahmen der Initiative Pflege 4.0 – Made in Berlin Mittel bereitstellen. Im Vordergrund stehen digitale Assistenzsysteme, die Menschen im Alter dabei unterstützen sollen, ihren Alltag zu organisieren, um so lange wie möglich im eigenen Zuhause leben zu können. Ziel des Projekts ist es, pflegebedürftigen Personen und Angehörigen einen Einblick in ein altersgerechtes Wohnen im Smart Home zu geben. Um anschaulich zu vermitteln, wie Assistenzsysteme die Selbstständigkeit von Bewohner*innen erhalten sollen, können Interessierte Online eine virtuelle Musterwohnung begehen.

Kompetenzen: Was kann die virtuelle Musterwohnung?

Die virtuelle Musterwohnung stellt eine ganze Reihe an Assistenzsystemen aus, die in der Wohnung verteilt sind. Dazu zählen zunächst Sensoren, die Bewegungen von Bewohner*innen erfassen. Die Sensorsignale werden zentral im Hausnotrufsystem in der Wohnung verarbeitet, das im Fall langer Inaktivität – die auf eine Notlage hinweisen könnte – oder einem Sturz Angehörige oder Pflegekräfte alarmiert. In der Wohnung verbaute Sensoren erstellen außerdem Bewegungsmuster und registrieren Abweichungen von Alltagsroutinen. Das gilt u.a. für den Schlaf, den am Bett angebrachte Sensoren oder eine Smartwatch aufzeichnen. Neben diesem Sensorarrangement, das Körperdaten produziert, erinnert die smarte Medikamentenbox Bewohner*innen daran, Tabletten regelmäßig einzunehmen. Ein CO2-Melder, der an eine automatische Fensteröffnung gekoppelt ist, sorgt für gut belüftete Wohnräume, und ein über dem Kochfeld angebrachter Herdwächter schaltet bei Überhitzung ab.

Über interaktive Schaltflächen können Besucher*innen der virtuellen Musterwohnung Informationskästen zu den Sensorsystemen aufrufen, die mit dem weiterführenden Angebot »Mein Technik-Finder« verknüpft sind, das den aktuellen Stand der »Pflege 4.0-Produkte« wie Sprachassistenzen, Gesundheits-Apps oder Sturzsensoren katalogisiert (Mein Technik-Finder, online). Gelistet werden ausschließlich marktreife Produkte, keine Prototypen. Um sicherzustellen, dass die Assistenzsysteme auch sinnvoll eingesetzt werden können, verweist die virtuelle Musterwohnung nur auf Produkte, die sich an einem erprobten »Pflegeklassifikationssystem« orientieren, das »Pflegediagnosen, Pflegeziele und Pflegemaßnahmen miteinander in Bezug setzt« (ebd.).

 

Erkenntnisse: Was zeigt die virtuelle Musterwohnung?

Durch die Begehung der virtuellen Musterwohnung nimmt die Vorstellung altersgerechter Unterstützung Gestalt an, die das Berliner Projekt mit digitalen Assistenzsystemen verbindet. Neben Komfortfunktionen, die den Alltag einfacher gestalten sollen, richten sich die Assistenzsysteme der Wohnumgebung vor allem aber an Dritte. Mit Blick auf die pflegerische Versorgung von Menschen im Alter bedeutet digitale Assistenz, durch fortlaufendes Monitoring des Alltags rechtzeitig Angehörige oder Pflegekräfte zu verständigen, wenn die überwachte Person auf Unterstützung angewiesen ist, die von der verbauten Technik nicht mehr übernommen werden kann. Die smarte Wohnung informiert sie bei Abweichungen von Alltagsroutinen, wenn sich Bewegungsmuster ändern oder Tabletten nicht regelmäßig eingenommen werden, wie auch im akuten Ernstfall, etwa einem Alarm des Herdwächters oder einem Sturz. Damit verspricht das altersgerechte Smart Home Sicherheit durch Rechtzeitigkeit. Der über digitale Assistenzsysteme versicherte Vertrauensvorschub besteht darin, dass die technisch vernetzte Wohnung zuständige Personen verständigt, sobald es Bedarf gibt. Für Betreuende hat das den Effekt, nur dann eingreifen und präsent sein zu müssen, wenn die smarte Umgebung diesen Unterstützungsbedarf als notwendig einstuft.

Als virtuelles Objekt materialisiert die Musterwohnung die Zeitökonomie des technisch betreuten Wohnens und führt vor Augen, wie die gesellschaftlichen Herausforderungen des demografischen Wandels mithilfe vonTechnik eingehegt werden sollen. Eine pauschale Kritik am assistiven Wohnen, die die durchgehende Überwachung, eingeschränkte Privatsphäre und Fremdkontrolle ankrittelt, perlt aber am pflegerischen Alltag in betreuten Einrichtungen und im eigenen Zuhause ab. Entscheidend ist vielmehr, dass das umgebungstechnisch betreute Wohnen zum Wartezimmer wird: »inhabited by those who are not quite ›sickenough‹ to be brought into the clinic, yet not ›well enough‹ to be metrically unaccounted for« (Dalmer et al. 2022, 85). Neben der Aussicht, möglichst lange abhängig von Technik, aber unabhängig von Pflegeinstitutionen im umgerüsteten Zuhause zu altern (Rieger 2019, 186), soll Pflege bestenfalls On-Demand erfolgen, um finanzielle und personelle Ressourcen im Gesundheitswesen zu schonen.

Mit Technik zu altern, erfordert aber Investitionen. Die Voraussetzung ist, dass digitale Assistenzsysteme zuverlässig arbeiten, durchgehend funktionsfähig sind und ein Support jederzeit verfügbar ist, sie Menschen im Alter nicht diskriminieren und nicht darauf zielen, einen angenommenen Normalzustand wiederherzustellen, ihre Anschaffung keine Luxusfrage ist, sondern allen zugänglich, sie schließlich durch partizipative Technikentwicklung (auch wenn das kein Zauberwort ist) zumindest annäherungsweise die diversen Bedarfe von Menschen im Alter einpreisen, und nicht zuletzt Angehörige und Pflegefachkräfte bei der pflegerischen Versorgung sinnvoll unterstützen. Bis das erfüllt ist, müssen wir diskutieren, wie wir altern wollen.

Quellen

Dalmer, Nicole/Ellison, Kirsten/Katz, Stephen/Marshall, Barbara (2022): Ageing, Embodiment and Datafication. Dynamics of Power in Digital Health and Care Technologies. In: International Journal of Ageing and Later Life 15 (2), S. 77–101.

Rieger, Stefan (2019): Die Enden des Körpers. Versuch einer negativen Prothetik. Wiesbaden: Springer.

Mein Technik-Finder des Berliner Landeskompetenzzentrum Pflege 4.0, online unter: https://www.lebenpflegedigital.de/mein-technik-finder/ (zuletzt abgerufen am 26.05.2025).

Virtuelle Musterwohnung des Berliner Landeskompetenzzentrum Pflege 4.0, online unter: https://www.lebenpflegedigital.de/virtuelle-musterwohnung/ (zuletzt abgerufen am 26.05.2025).

Weiterführende Literatur

Hester, Helen/Srnicek, Nick (2023): After Work. A History of the Home and the Fight for Free Time. London: Verso.

Müggenburg, Jan (2020): Assistenz. In: Hessler, Martina/Liggieri, Kevin (Hg.): Technikanthropologie: Handbuch für Wissenschaft und Studium. Baden-Baden: Nomos, S. 411–415.

Pols, Jeannette/Moser, Ingunn (2009): Cold Technologies Versus Warm Care? On Affective and Social Relations With and Through Care Technologies. In: ALTER– European Journal of Disability Research 3 (2), 159–178.

Vallor, Shannon (2016): Robots at War and at Home. Preserving the Technomoral Virtuesof Care and Courage. In: Technology and the Virtues: A Philosophical Guide to a Future Worth Wanting. Oxford University Press, S. 208–229.

 

Videorechte:

Berliner Landeskompetenzzentrum Pflege 4.0.

Das Virtuelle Objekt des Monats

Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein »Virtuelles Objekt des Monats« (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 »Virtuelle Lebenswelten« vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.

Das »Virtuelle Objektdes Monats« ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.