Virtuelles Objekt des Monats

Sticky Agent

Ein Objekt des virtuellen Vertrauens

Alisa Kronberger

Oktober 2025
twoclickplayer-dVY0S42oDSY

Vertrauen gilt als der unsichtbare Kitt, der unser soziales und wirtschaftliches Leben zusammenhält. Es reduziert Komplexität in einer unübersichtlichen Welt und ist die Grundlage für Kooperation. Besonders in ökonomischen Kontexten wird diese Eigenschaft oft mit der Metapher der Klebrigkeit beschrieben: Vertrauen ist der »social glue«, der »Klebstoff«, der Kund*innen an Marken bindet. Doch wie wird dieser zutiefst menschliche, oft als zähfließend und organisch beschriebene Prozess in der flüchtigen, nicht selten anonymen Welt digitaler Interaktionen hergestellt?

Der »Sticky Agent« gibt als virtuelles Objekt des Monats eine verblüffend konkrete Antwort. An diesem unscheinbaren Software-Feature aus dem Call-Center-Alltag lässt sich meine zentrale These durchspielen: Virtuelles Vertrauen wird heute gezielt technisch erzeugt, indem eine materielle Metapher – die der Klebrigkeit – in eine automatisierte Funktion übersetzt wird. Der »Sticky Agent« zeigt, wie die Logik der Wiederholung ein Gefühl der Vertrautheit simuliert, um letztlich einen ökonomischen Mehrwert zu schaffen.

Steckbrief

1. Entstehungsgeschichte: Was bin ich und woher komme ich?

Um meine Herkunft zu verstehen, müssen wir zwei Welten betrachten: die des gesellschaftlichen Diskurses über Vertrauen und die derCall-Center-Technologie.
Einerseits ist da die mächtige Vorstellung von Vertrauen als Klebstoff. Vertrauen stellt seit jeher eine wesentliche Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens dar. In geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontexten, vor allem aber auch in Ökonomie- und Marketing-Diskursen, findet sich immer wieder die Metaphorik der Klebrigkeit. Vertrauen wird als der Klebstoff, der »social glue« (Bakir/Barlow 2007) gesehen, der soziale Gruppen und Geschäftsbeziehungen zusammenhält. Es ist der »glue and lubricant« (Anderson/Jack 2002), der die globalisierte, fließende Welt vor dem Zerfall bewahren soll. Für Unternehmen gilt daher der Imperativ, Vertrauen aufzubauen, zu pflegen und zu bewahren. Dieser »Klebstoff« müsse, so der Ökonom Thomas Osburg, fest in die DNA des Unternehmens »eingebacken« werden, denn die Devise lautet: »No trust, no business«.

Andererseits bin ich eine konkrete technische Antwort auf diesen Imperativ. Im Kontext von Call- oder Contact-Centern bezeichnet der Begriff »Sticky Agent« eine Softwarefunktion zur intelligenten Anrufweiterleitung. Mein Prinzip ist einfach: Ruft ein*e Kund*in erneut an, verbindet das System ihn*sie automatisch mit derselben Person, mit der er*sie bereits zuvor gesprochen habt. Ich »klebe« den*die Kund*in an den*die bekannten Agenten. Meine Herkunft ist also die Schnittstelle, an der das metaphorische Bedürfnis nach »klebrigem« Vertrauenauf einen technischen Lösungsvorschlag trifft, die genau das verspricht: eine feste, wiedererkennbare und vertraute Verbindung in einem anonymen System herzustellen.

2. Kompetenzen: Was kann ich?

Ich mache die Erzeugung von Vertrauen zu einem automatisierten und kybernetischen Prozess. Mein Wirkprinzip beruht auf der psychologischen Kraft der Wiederholung und Vertrautheit. Die Software-Entwickler*innen formulieren es klar: »This can help build trust and loyalty, essential to building customer relationships.« (Bakthikrishnan 2025) Aber wie genau funktioniert das?

Hier hilft ein Blick auf die Theorie. Die Kulturtheoretikerin Sara Ahmed beschreibt, wie die Wiederholung von Eindrücken (»impressions«) zu einer »Klebrigkeit« führt. Objekte oder Personen, denen wir wiederholt begegnen, hinterlassen eine Spur, eine Oberfläche der Vertrautheit. Genau diesen Mechanismus mache ich mir zunutze. Der wiederholte Kontakt mit derselben Stimme, demselben Namen und derselben Person schafft eine solche vertraute Oberfläche. Diese künstlich hergestellte Familiarität wird von Anrufenden oft unbewusst als Zeichen von persönlicher Anerkennung und damit als Vertrauenswürdigkeit interpretiert – obwohl sie das Ergebnis eines Algorithmus ist.

Für die Virtualitätsforschung zeige ich damit, wie virtuelle Systeme soziale Affekte erzeugen können, ohne auf ›authentische‹ und individuell gewachsene Beziehungen angewiesen zu sein. Ich mache Vertrauen zu einem kalkulierbaren, operationalisierbaren und skalierbaren Gut. Anstatt auf den Zufall oder die individuelle Leistung einer*s Mitarbeiter*in zu setzen, schafft das System selbst die Bedingungen für die Entstehung von Vertrauen. Ich übersetze ein Gefühl in eine Funktion und demonstriere, dass Virtualität aktiv in die Konstitution sozialer Phänomene wie Vertrauen eingreift und diese nach ökonomischen Kriterien formt.

3. Erkenntnisse: Was zeige ich?

Meine Besonderheit liegt darin, dass ich die Nahtstelle zwischen Metapher, Technik und Ökonomie freilege. Ich bin die technologische Umsetzung der Rede vom »klebrigen« Vertrauen. An mir lässt sich ablesen, wie ein abstraktes soziales Ideal zu einer konkreten Anweisung für einen Algorithmus wird.

Ich verkörpere die ökonomische Logik hinter dem virtuellen Vertrauensaufbau. Die persönliche Verbindung, die Kund*innen empfinden, ist kein Zufallsprodukt, sondern das kalkulierte Ergebnis einer Strategie zur Kundenbindung. Das Gefühl, »erinnert« zu werden, entspringt nicht dem Gedächtnis eines Menschen, sondern dem »Gedächtnis« des Systems. Ich zeige damit eine zentrale Funktionsweise der digitalen Ökonomie: die Simulation von personalisierter Beziehung als Ressource.

Die Auseinandersetzung mit mir deckt also eine subtile, aber wirkmächtige Verschiebung auf. Ich, der »Sticky Agent« bin mehr als eine Softwarefunktion; ich bin ein virtuelles Kulturobjekt das den Wunsch nach verlässlichen Bindungen in einer flüchtigen Welt aufgreift und ihn in ein automatisiertes, profitables System überführt. Ich zeige, dass virtuelles Vertrauen heute weniger Zeit hat, um zu wachsen und zu gedeihen, sondern vielmehr die Abkürzung nehmend, gezielt konstruiert und implementiert wird – unsichtbar, effizient und auf (Telefon-)Knopfdruck.

Quellen

Ahmed, Sara (2004): The Cultural Politics of Emotion. New York: Routledge.

Anderson A./Jack S. (2002): The articulation of social capital in entrepreneurial networks: a glue or a lubricant?, in: Entrepreneurship Reg Dev 14, 193–210.

Bakir, Vian/Barlow, David (Hg.) (2007): Communication in the Age of Suspicion: Trust and the Media. Palgrave Macmillan.

Bakthikrishnan, Uthaman (2025): »Sticky Agent – How Does It Help to Build Better Customer Relationships?« In: https://www.cleartouch.in (06.03.2025), online unter: https://www.cleartouch.in/blog/how-sticky-agent-helps-improve-customer-relationships/.

Lahno, Bernd (2002): Der Begriff des Vertrauens. Paderborn: Mentis.

Luhmann, Niklas ([1968] 2014): Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 5. Aufl. UTB.

Osburg, Thomas/Heinecke, Stephanie (Hg.) (2019): Trust in the Digital World and the Big Issues of Our Time. Springer.

 

Weiterführende Literatur

Abdelhamid, Michaela (2018): Die Ökonomisierung des Vertrauens. Eine Kritik gegenwärtiger Vertrauensbegriffe. Bielefeld: Transcript.

Baier, Annette (1986): Trust and Antitrust, in: Ethics, Vol. 96, No. 2,231-260.

Hartmann, Martin (2020): Vertrauen. Die unsichtbare Macht. Frankfurt a.M.: Fischer

Lehmann, Maren (2024): »Vertrauen«, in: ZfM. Zeitschrift fürMedienwissenschaft 30, 1/2024, S. 114-116

 

Das Virtuelle Objekt des Monats

Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein »Virtuelles Objekt des Monats« (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 »Virtuelle Lebenswelten« vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.

Das »Virtuelle Objektdes Monats« ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.