Virtuelles Objekt des Monats

St. Stanisław in VR – eine schlesische Figur

Wenn ein Heiliger virtuell wird

Lena Ciochon

01. August 2025
Entstehungsgeschichte: Was ist St. Stanisław in VR?

Im Rahmen eines innovativen Digitalisierungsprojekts wurde in Bielsko-Biała (Polen) eine Virtual Reality-Anwendung entwickelt, die die Geschichte der Kirche des Heiligen Stanislaus sowie ihres unmittelbaren Umfelds multiperspektivisch erfahrbar macht. Die Applikation basiert auf einem detaillierten 3D-Modell des Kirchenareals und dient – nach der Profanierung und Restaurierung der Kirche – als virtueller Rundgang durch diesen historisch bedeutsamen Ort.

Das interaktive Wegeleitsystem integriert verschiedene mediale Zugänge und verbindet dokumentarische, künstlerische und didaktische Elemente zu einem immersiven Gesamterlebnis. Konzipiert und wissenschaftlich begleitet wurde die VR-Anwendung von Dr. Michał Hyjek, der am Institut für Kunst und Design der Universität der Nationalen Bildungskommission in Krakau das Forschungsteam Collegium XR leitet.

Die Anwendung ist in vier thematische Ebenen gegliedert, die eine epochenübergreifende Narration ermöglichen: Sie reicht von der mythisch überlieferten slawischen Sakralnutzung des Ortes über die mittelalterliche Gründung der Kirche bis hin zu ihren späteren baulichen und funktionalen Transformationen. Im Zentrum steht die St. Stanisław Kirche als das älteste und kulturell bedeutendste Bauwerk der Stadt, ein besonderer Fokus liegt auf der Zeit des Mittelalters und die Rolle des Heiligen Stanislaus als Identifikationsfigur der Region. Die Anwendung basiert auf einem mehrstufigen Digitalisierungsprozess, der sowohl historische Dokumente, Fotografien und Überlieferungen als auch moderne Laserscans einbezog. Historiker*innen, Archäolog*innen und 3D-Designer*innen arbeiteten gemeinsam an der Entwicklung.

Kompetenzen: Was kann St. Stanisław in VR?

Ein zentrales wissenschaftliches Problem stellte dabei die Visualisierung des Heiligen Stanislaus selbst dar, von dem keine zeitgenössischen Porträts oder ikonographisch gesicherten Darstellungen überliefert sind.

Die virtuelle Figur basiert somit auf einer Synthese aus Legenden, kunsthistorischen Analogien und spekulativen Rekonstruktionen. Aufgrund der schlechten Quellenlage wurde die Form des Heiligen Stanislaus und auch der Umgebung der Kirche abstrakt gehalten. Zudem wurde ein starker Gamification-Ansatz gewählt. Diese Vorgehensweise wirft grundlegende Fragen zur Authentizität, zur Grenze zwischen historischer Faktizität und künstlerischer Fiktion sowie zur Verantwortung digitaler Geschichtsvermittlung auf.

Diese VR-Inszenierung demonstriert eindrucksvoll, wie digitale Technologien genutzt werden, um Stadtgeschichte zu vermitteln. Die virtuelle Gestalt vom Bischof St. Stanisław ist dabei ein Beispiel für die kreativen Herausforderungen historischer Virtualisierungen. Eine Quelle, die zumindest die Existenz von St. Stanisław und seine Auseinandersetzung mit König Bolesław II. belegt, ist die des Chronisten Gallus Anonymus, die auditiv in derAnwendung referenziert wurde. Die Darstellung des Heiligen Stanislaus verweist auf die geschichtskulturelle Bedeutung des Heiligenkults in der Region. DieVerehrung Stanislaus’ entwickelte sich in Schlesien seit dem 13. Jahrhundert und avancierte zu einem zentralen Element der religiösen und politischen Identitätsbildung. Ursprünglich aus Kleinpolen übernommen, diente der Kult um den Krakauer Bischof nicht allein der persönlichen Frömmigkeit, sondern erfüllte insbesondere unter den schlesischen Piasten eine dynastische Legitimationsfunktion. Die Vielzahl von Kirchen und künstlerischen Darstellungen dokumentiert die tiefe Verwurzelung des Stanislaus-Kults im religiösen Alltag Schlesiens. Darüber hinaus fungierte die Verehrung als Brücke zwischen slawischer und westlicher Kulturtradition und leistete somit einen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung einer eigenständigen schlesischen Identität. Die besondere Verehrung des Heiligen manifestierte sich vor allem bei Wallfahrten und Kirchenfesten – wobei Stanislaus heute vor allem als Nationalheiliger rezipiert wird.

Erkenntnisse: Was zeigt St. Stanisław in VR?

Die VR-Umsetzung von Bielsko-Biała und St. Stanisław macht deutlich, wie digitale Technologien Geschichtsbilder formen, sie gleichzeitig reproduzieren und mit aktuellen popkulturellen Erscheinungen in Einklang bringen wollen. Sie eröffnet Diskussionen über Authentizität und künstlerische Interpretation der Virtualisierung historischer Begebenheiten. Während die Stadt und ihre Gebäude auf archäologischen und dokumentarischen Quellen basieren, ist die Darstellung von St. Stanisław eine digitale Konstruktion, die das Unsichtbare der Vergangenheit sichtbar macht. Die VR-Anwendung zeigt damit eindrucksvoll, wie Geschichte durch digitale Medien vermittelt und zugleich neu erschaffen wird.

 

Quellen zum Projekt

https://www.bielsko.info/wiadomosci/26329-powstala-gra-komputerowa-o-historii-kosciola-w-starym-bielsku-bielsko-biala

https://collegiumxr.uken.krakow.pl/en/st-stanislaw-in-bielsko-biala/

https://www.niedziela.pl/artykul/64510/Bielsko-Biala-gra-komputerowa-o-najstarszej-swiatyni-w-miescie

 

Literatur

Mrozowicz, Wojciech: »Die Heiligen und ihre Verehrung im mittelalterlichen Schlesien (ein Kurzüberblick)«, in: Concilium medii aevi 6(2003), S. 1–14, online verfügbar unter: https://doi.org/10.11588/cma.2003.0.78189 [abgerufen am 06.05.2025].

Schenk, Wacław: »Liturgiczny kult św. Stanisława Biskupa w Polsce« [Der liturgische Kult des hl. Stanislaus des Bischofs in Polen], in: Analecta Cracoviensia 11 (1979), S. 587–601, DOI: https://doi.org/10.15633/acr.2999 [abgerufen am 06.05.2025].

WeiterführendeLiteratur

Brunnenberg, Christian: »Mittendrin im historischen Geschehen? Immersive digitale Medien (Augmented Reality, Virtual Reality, 360°-Film) in der Geschichtskultur und Perspektiven für denGeschichtsunterricht«, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), S. 45–66.

Dola, Kazimierz: »Kult świętego Stanisława biskupa i męczennika a tradycje polskie na Śląsku« [Der Kult des hl. Stanislaus, Bischof und Märtyrer, und polnische Traditionen in Schlesien], in: Studia Śląskie 25 (1973), S. 5–36.

Gibson, L./Cantabrana, M./ Parellada, C.: »A New Approach to Virtual Reality in History Education: The Digital Oral Histories for Reconciliation Project (DOHR)«, in: Carretero, M./ Cantabrana, M./ Parellada, C. (Hrsg.): History Education in the Digital Age, Cham: Springer 2022, S. 103–122.

Kuchler, Christian/ Muckel, Kristopher (Hrsg.): Virtual Reality: Zukunft der historischen Bildung?, Göttingen: Wallstein 2025 (Historische Bildung und Public History; Bd. 3).

Lewers, Elena: »Durch Raum und Zeit? Medienkritische Auseinandersetzung mit Virtual Reality im Geschichtsunterricht«, in: Medienimpulse 60 (2), 2022, DOI: https://doi.org/10.21243/mi-02-22-20 [abgerufen am 21.05.2025].

Victor, Mike: »The Impact of Virtual Reality on Historical Education: An Investigation into the Effectiveness and Efficacy of Immersive Learning Experiences«, in: International Journal of History Research 3 (2), 2023, S. 27–38.

Das Virtuelle Objekt des Monats

Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein »Virtuelles Objekt des Monats« (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 »Virtuelle Lebenswelten« vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.

Das »Virtuelle Objektdes Monats« ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.