»Relax. It was a glitch.« Literatur und Glitches
Moritz Nicklas ist Forschungsstudent im Teilprojekt B01 »Mögliche Welten«. In seinem Forschungsprojekt widmet er sich der Literatur des Glitches. Dabei fokussiert er zum einen Verwendungsweisen des Glitches als Beschreibungsform bestimmter Erfahrungen der gegenwärtigen Lebenswelt. Zugleich reflektiert er diese kritisch aus literaturwissenschaftlicher Sicht und macht diese Sprach- und Schreibpraktiken zum Gegenstand der Analyse.
Bahnhöfe laden im Normalfall nicht gerade zum Verweilen ein. Zumindest soll man so lange bleiben können, bis man diesen Nicht-Ort (vgl. Augé 2010) wieder verlässt, das ziel- und funktionslose Umherstreifen dagegen sind schnell verdächtig. Alles an Bahnhöfen, selbst die Bänke, die in ihrer feindlichen Architektur darauf ausgelegt sind, nicht zu lange darauf zu sitzen bzw. zu liegen, die Geschäftsmäßigkeit der Angestellten von Bäckereishops, die engen Gänge und das aufs Reisen ausgerichtete Sortiment von Drogeriemärkten richten ihre implizite Aufforderung an jeden Menschen: Geh weiter! Verschwinde! Bahnhöfe sind durchlässige Orte: von Verkehrsströmen, von Informationen, Waren und Dienstleistungen, von sozialen Schichten und Milieus – hier begegnet sich die Gesellschaft wohl eher als in der Kirche; sie sind das Scharnier in den Biografien von Menschen, die hier zur nahe- oder ferngelegenen Arbeitsstätte pendeln, für diejenigen, für die der Zug vielleicht sogar die Arbeitsstätte selbst ist, sind dasjenige, das sie betreten und wieder verlassen müssen, um ihr Leben, so wie sie es kennen, aufrecht zu erhalten. Im Idealfall sollte man also gar nicht so sehr darüber nachdenken, dass es diese Orte wie den Bahnhof benötigt, um das eigene Leben zu leben, denn wie der Katalysator in einer chemischen Reaktion nimmt er, zumindest theoretisch, nicht an den Vorgängen selbst Teil, sondern ermöglicht sie nur.
Dass dies aber nur der Wahrnehmung entlang von Funktionslogiken, die von kapitalistischen Systemen mit ihrer Ideologie der Warenströme, einer Glättung des Realen durch Phantasmen im Imaginären, entsprechen kann, wird schnell klar, wenn man einmal genauer hinsieht: Die Bahnhöfe in Deutschland sind oftmals in einem bedauernswerten Zustand, sie bröckeln, reißen langsam auseinander, im Duisburger Hauptbahnhof fielen bis vor kurzem regelmäßig Glasplatten des Bahnhofsdachs auf die Bahnsteige. Zugänge sind versperrt, manchmal derart, dass Menschen mit Behinderung keine Möglichkeit mehr haben, ohne Hilfe von anderen in die Bahnhofshalle zu kommen, geschweige denn zum Gleis oder in den Zug. Eine Betrachtungsweise, die nur auf das Funktionieren von Verkehrs- und Warenströmen abstellt, muss sich zurecht die Kritik gefallen lassen, dass sie nur einen, wenn nicht sogar den unbedeutenden Teil eines größeren Funktionssystems im Blick hat, insofern dieses Funktionieren Brüche und Diskontinuitäten überdeckt und unsichtbar macht. Eine Logik der reibungslosen Zirkulation kann also nur der- oder diejenige vertreten, der oder die nicht genau hinsieht bzw. hinsehen will. Was macht man aber aus folgenden Situationen (die erste ist eher Alltag, die Zweite aus medientheoretischer Sicht interessanter): In Hamburg-Altona kann man sich ohne einen Blick auf anderweitige Informationssysteme keine Auskunft darüber verschaffen, welche Verkehrsmittel nun als nächstes wann und wo abfahren werden; der Taubenkot ist anscheinend in Lüftungsritzen der LED-Anzeige eingedrungen und verursacht eine Störung. Dass diese Tauben in Städten selbst ein Produkt und Reminiszenz der Warenzirkulation des 19. Jahrhunderts sind, weil sie als Brieftauben massenweise in Städten ›angesiedelt‹ wurden, ist hier nur eine kleine Randnotiz.

Und was, wenn diese Anzeigen sogar noch reflexiv werden? Nach einer anfangs unkomplizierten Reise über Hamm Hbf verspätet sich nun der Anschlusszug nach Münster aufgrund von technischen Problemen im Stellwerk, 50km entfernt, es dauert, man sitzt auf seinem möglicherweise durch Rücksichtslosigkeit, möglicherweise auch durch Glück ergatterten Sitzplatz und wartet, dass es weitergeht. Wenn man dann endlich in Münster ankommt, 30 Minuten verspätet, fällt einem die nicht durchgängige Nummerierung der Gleise auf: auf 2 folgt 3, dann 4 und 8, dann später 9, 11 und 12 und 14, da lässt sich schlichtweg kein System erkennen. Und dann diese Anzeige in der Bahnhofshalle, während man einen nach Spülmittel schmeckenden Kaffee trinkt, aus einem Einwegbecher mit Riss im Deckel: In der DB-Type steht dort in weiß auf blau: Information, darunter ein Bildschirm, von dem nur die untere Hälfte lesbar ist, weil die Anti-Lichtreflex-Mattscheibe die Beleuchtung doch so stark reflektiert, dass der obere Teil nicht entzifferbar ist. Und diese Anzeige wiederum zeigt nur an, dass sie gerade nichts anzeigen kann und auf der Suche nach derjenigen Quelle ist, die die Daten beinhaltet, die sie wiedergeben soll. Eine Anleitung wird angezeigt, die jedoch für den Beobachtenden nicht ausführbar ist, weil er oder sie keinen Zugriff auf die Steuerungselemente hat. Eine Information also, die keine Information transportiert, außer die, dass sie gerade keine Information transportiert. Ich bin versucht, mit Filzstift »Meta-« davor zuschreiben, wenn dies nicht strafbar wäre und dazu führen könnte, das Irritationspotential zu erhöhen. Also lasse ich es lieber und mache ein Foto von der Seite, sodass ich nicht selbst im Bild bin.

Bei diesem Ereignis, das seine Ereignishaftigkeit nur daraus gewinnt, dass ich es zum Thema mache und verallgemeinerbare Reflexionen darüber anstelle, handelt es sich um eine gleichzeitig grundlegende und doch signifikante Erfahrung der Gegenwart. Eigentlich ist es Alltag, dass etwas nicht so funktioniert, wie es sollte, oder dass etwas funktioniert, aber niemand weiß, wie und warum bzw. wozu es funktioniert. Was haben z.B. die auf Schnellfahrstrecken in der Mitte der Gleise verlaufenden Funkkabel damit zutun, dass mein Zug nicht so schnell fahren kann, wie er theoretisch könnte? Warum verspätet sich genau deshalb ein Zug auf einer anderen Strecke, die nicht direkt etwas mit meinem eigenen Fahrtweg zu tun hat? Und, was müsste ich tun, um zu erfahren, warum dies so ist? Reicht meine Verstandeskraft dazu oder benötige ich andere Mittel, um dieses Ziel zu erreichen?
Dass vor allem die Literatur des 20. Jahrhunderts für diese Brüchigkeit der Lebenswelten ein Auge hat, wird nun schon seit längerem in den USA, seit kurzem aber auch durch die deutschsprachige Literatur der Gegenwart behauptet. Es gibt nämlich einen engen Zusammenhang zwischen den oben beschriebenen Strukturen und den Interessen von Literatur, Philosophie und Medienwissenschaft. Mancher Autor, z.B. Juan S. Guse spricht sogar von einem »glitch turn« der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur; ob ernst gemeint oder eher ein ironischer Versuch, die eigene Literatur als neue Form eines schon länger bekannten Problems, nämlich der Instabilität der Lebenswelt, zu inszenieren, bleibt dahingestellt. Darauf kommt es gar nicht so sehr an, insofern der Begriff des Glitches als Selbstbeschreibungsformel der Literatur und auch als Metabegriff der Literaturwissenschaft Verwendung findet. Entscheidend ist eher, dass dieser Versuch Guses, einen »glitch turn« zu reklamieren, von der Seite kommt, nämlich als Blurb zu einem Roman Die Realität kommt (2021) eines anderen Autors, Rudi Nuss. Es ist nicht so sehr eine explizite Behauptung durch poetologische Texte oder textinterne Metaisierung, d.h. einer Selbstreflexivität von Texten wie in Gesprächen von Figuren über etwas, das auch Relevanz für die Deutung des vorliegenden Erzähltextes hätte. Vielmehr ist es ein epitextuelles Phänomen, das in den Nischen der Literaturvermittlung stattfindet, an den Rändern von Büchern, auf Covern, in Interviews, aber nicht direkt in den Texten selbst, wie es der Begriff des »turns« implizieren könnte. Nicht so sehr der literarische Text wird gewendet, sondern ein Begriff entwickelt, der es erlaubt, über sie anders zu reden. Natürlich gibt es auch spezifische Thematiken, die von dieser Glitch-Literatur besetzt werden, doch diese werden erst als solche sicht- und erkennbar, nachdem man sich das Diskurs-Inventarium des epitextuellen Gesprächs angeeignet hat.
Was hat dies nun mit dem maroden deutschen Eisenbahnsystem zu tun? Nun, der Begriff des Glitches ist in seiner momentanen Verwendung z.B. bei Clemens J. Setz durchaus universell gedacht. Dies erklärt sich aus dem Anspruch heraus, die Lebenswelt zu beschreiben, also die Umwelt der Literatur, die selbst Eingang findet in das Gespräch über jene Literatur, aber auch daraus, dass der Glitch eine längere und teilweise schwer nachvollziehbare Begriffsgeschichte mit all ihren Transformationen und Übersetzungen hinter sich hat: nämlich als frühneuhochdeutscher und aufgrund von linguistischen Verwandtschaften auch im Jiddischen verwendeter Begriff in theologischen Kontexten, in denen er das Ausrutschen, im übertragenen (dem tropologischen, also moralischen) Sinne die Fehlbarkeit des Menschen bezeichnet. Hier tritt die Glitschigkeit des »Weges zum Herrn« (vgl. z.B. Ps 17,5) als Warnung auf und sucht den Menschen dazu aufzurufen, seine Schritte mit Bedacht zu wählen. Bevor der Glitch also als Begriff selbst etabliert wurde, war er schon ein bestimmtes ›Gefühl‹ gegenüber der Lebenswelt, etwas, das es zu vermeiden galt und gleichzeitig zu bedenken, ein zwiespältiges Phänomen also, vor allem deshalb, da das Glitschen einen Zwischenzustand des Fallens bezeichnet, das weder ganz abgeschlossen noch ganz ausgeführt ist: Die Füße verlassen den Boden, sind aber auch nicht vollkommen in der Luft, was der Levitation, dem Schweben entsprechen würde.
Im 20. Jahrhundert etablierte sich der Begriff des Glitches in einer vor allem technischen Dimension: nämlich der Handhabung von elektrischen Schaltkreisen und ihren Rückkopplungseffekten und Interfaces. Genau dann, wenn diese elektrischen Systemen aus bisher noch nicht bekannten Gründen nämlich ihre vorhergesehene Funktion nicht mehr ausführten, aber dennoch nach einem in seiner Dauer nicht genauer bestimmten Moment zurück in ihren erwarteten Mechanismus zurückkehrten, sprachen Ingenieur*innen von Glitches. In diesem Sinne bezeichnet er eine Unterbrechung der Automation, der Ent-Automatisierung, allerdings mit dem klaren Ziel, den Prozess baldmöglichst wieder in einen problemlos Selbstablaufenden zurückzuführen. Erst einige Ingenieur*innen werden in den 70er Jahren, schwerpunktmäßig in Chicago, eine Form der Aktionskunst experimentell erproben, die gezielt die Ent-Automatisierung von verschiedenen Medien und ihren elektrotechnischen Funktionssystemen sucht. Nicht wenigen gilt dies als Geburtsstunde der Kunstform der Glitch Art: Wie jedes Subsystem der vielfältigen Kunstformen hat sie ihre eigenen Diskussionsgegenstände, Kanones, Theoriereferenzen, Gestaltungsformen und -vorlagen, Ortsschwerpunkte, Institutionen usw. hervorgebracht und weist mittlerweile eine derartige Komplexität auf, dass sie bereits ins Museum einziehen kann bzw. muss, um einen Überblick über Subgenres zu erhalten – so geschehen von November 2023 bis März 2024 in der Pinakothek der Moderne in München unter dem Titel »Glitch. Die Kunst der Störung« (vgl. Kunze 2023). Was jedoch bisher nicht im Blickfeld dieser Glitch-Institution war, ist die erzählende Literatur. Zwar stützt sich die Glitch Art durchaus auf Gedrucktes und Geschriebenes als Plattform der Diskussion über Kunstwerke, doch wurde die Schrift als Gegenstand von Glitch Art eher selten in Betracht gezogen.
Da es aus philologischer Sicht sowieso immer schwer zu sagen ist, jemand habe etwas als Erste*r behauptet, sei im Folgenden davon die Rede, dass der österreichische Schriftsteller Clemens J.Setz zumindest ein Indiz für eine Bewegung hin zur Literatur, und zwar zur erzählenden Literatur der Klassischen und mittlerweile auch musealisierten Moderne darstellt. In einem Essay mit dem sehr eindeutigen und doch zugleich fragwürdigen Titel »Die Poesie der Glitches«, veröffentlicht im Suhrkamp-eigenen Verlagsblog Logbuch Suhrkamp, behauptet Setz, dass fast jedes der Erzählverfahren der Moderne mit einem Glitch zu vergleichen sei, ja sogar ein Glitch sei (vgl. o.J.). Diese Behauptung aktiviert natürlich sofort das literaturwissenschaftliche Assoziationsvermögen, insofern diese im Fall von Setz auf digitale und virtuelle Medien codierte Metapher eine ungeahnte historische Tiefe eröffnet. Man kann das Gefühl haben, als ob mit dem Begriff des Glitches nur etwas (wieder-)aktiviert werde, das schon seit längerem zum Kernbestand der Medien- und Literaturtheorie gehört: nämlich vor allem der Begriff der Ambiguität, der zwar unterschiedlich verwendet wurde, jedoch im 20. Jahrhundert immer wieder als Zentralbegriff in der Konstitution von ›Textualität‹, ›Poetizität‹ und ›Literarizität‹ Bedeutung hatte. Es sei nämlich gerade der literarische (bzw. ›poetische‹) Text, der seineeigene Textualität immer wieder spürbar werden lasse und so hinsichtlich des Illusionscharakter seiner Narration nicht ›täusche‹ (vgl. z.B. Jakobson 2016[1935]; vgl. zur Geschichte dieses Gedankens Zymner 2010). Diesem Weg sind auch erste Forscher*innen wie Philipp Ohnesorge und Eckhard Schumacher (vgl. 2023) mit dem Ergebnis nachgegangen, dass sich durchaus Parallelen zwischen dem Begriff der Ambiguität und des Glitches finden lassen. ›Ambiguität‹ allerdings scheint selbst ambigen Charakter aufzuweisen, insofern auch bei Ohnesorge und Schumacher unklar bleibt, ob es sich dabei um eine reine literaturtheoretische Denkfigur, um eine rhetorische Figur oder vielmehr um eine komplexe Metapher handelt, die sich mit Gedanken zur Poetizität eines Textes nicht abfindet. Jedoch stellt sich jenseits der Problembehaftung des Ambiguitätsbegriffs die Frage, wie diese literaturtheoretische Denkfigur textuell umgesetzt werden kann und wie dies dann im Falle des Glitches aussehen würde. Nicht zuletzt müsste die Frage geklärt werden, was diese historische Herleitung aus älteren literaturtheoretischen Argumenten überhaupt für die Gegenwart bedeutet: Hat man es in digitalen und virtuellen Lebenswelten mit einer Wiederaufnahme dieses Konzeptes zu tun oder ist mehr nötig, als den Glitch als Altbekanntes zu reaktivieren und ihn als Allzubekanntes gut zu heißen?
Vielleicht ist auch der Anspruch einer derartigen Argumentation zu groß, zumindest liegt diese Vermutung nahe, wenn durch die Reformulierung des Glitches als Ambiguität nicht viel mehr gewonnen ist, als eine Denkfigur wieder ins Leben zu rufen. Man sollte vor literaturtheoretischen Inanspruchnahmen eher genau analysieren, in welchen Kontexten überhaupt vom Glitch gesprochen wird: Dies kann sowohl in Romanen stattfinden, die den Glitch zum Thema der Handlung oder auch der Darstellung haben, aber auch im Gespräch über Literatur, das einerseits direkt an bestimmte Veröffentlichungen angebunden sein, aber auch ›die Literatur‹ als Ganzes betreffen kann. Der erste auffällige Befund ist, dass es eine Differenz im Begriff des Glitches selbst gibt, wenn man ihn in einen synchronen und diachronen Aspekt teilt. Zum einen gibt es einige Romane der Gegenwart, die vor allem Handlungsmuster, intertextuelle Verweise und Rezeptionsmechanismen von Computerspielen aufnehmen und entweder reproduzieren oder kritisch verarbeiten (vgl. Weber 2024). Zu nennen wären z.B. für den anglophonen Raum Ernest Clines Ready Player One (2011) und Gabrielle Zevins Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow (2019), für den Deutschsprachigen Juan S. Guses Miami Punk (2019)und Tonio Schachingers Echtzeitalter (2023). Jedoch gibt es auch den Versuch – und dazu gehört Clemens J. Setz’ Essay, selbst wenn er in seinen eigenen Werken wie Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2015) sich auch stark auf die game culture des 20. und 21. Jahrhunderts bezieht –, diachron Texte aus früheren Zeiten einer Redeskription zu unterziehen und sie als Werke der digitalen und gamifizierten Gegenwart avant la lettre zu bezeichnen. In diesem Sinne ist die Debatte um den Glitch eher ein Symptom als eine genuin literaturtheoretische Diskussion. Es geht darum, ob die Methoden der Literaturwissenschaften auch in den digitalen und virtuellen Lebenswelten des 21. Jahrhunderts noch Gültigkeit besitzen bzw. gegenstandsadäquat sind, und dies gilt sowohl für Games selbst, die in manchen Theoriekontexten als Texte gelesen und analysiert werden, als auch für literarische Texte, die die Gegenwart analysieren und sich in entweder affirmierender, neutraler oder kritischer Weise zu ihr verhalten (vgl. dazu Moll/Weber 2023). Dass dann Autoren wie Clemens J. Setz z.B. in Kafkas Texten eine bestimmte Art und Weise des Erzählverfahrens vorfinden, welches unsere digitalen und virtuellen Lebenswelten bereits antizipiert, liegt darin begründet, dass das Digitale und Virtuelle selbst Träume und Irritationen erzeugt, die sich in ihrer Struktur z.B. bis zu Leibniz’ Philosophie der Monaden zurückverfolgen lassen. Nicht zuletzt das Problem der Besten aller möglichen Welten und der Evolution der Kontingenz spitzen sich gegenwärtig nochmals zu.
Insofern sollte es zwar möglich sein, wie dies am Beginn des Blogartikels geschah, die Metapher des Glitches zu nutzen, um bestimmte Erfahrungen der gegenwärtigen Lebenswelt zu beschreiben. Jedoch muss man diese Verwendungsweise selbst immer kritisch hinterfragen und zum Gegenstand der Analyse machen. Was gewinnt zum Beispiel die (deutschsprachige) Literaturwissenschaft, wenn sie sich auf Diskussionen um Ambiguität und Glitches einlässt? Der Punkt scheint doch weniger zu sein, dass Glitches auch Ambiguität bedeuten können, sondern dass gerade dieser Versuch des Anschlusses an Konzepte des Prager und Moskauer Strukturalismus die Nachholbedürftigkeit der Methoden der Literaturwissenschaften aufzeigt. Zudem müsste geklärt werden, welche Begriffsunschärfen bei solchen Übertragungen von Konzepten zugelassen werden sollen, d.h. wie groß der Grad an ›Opportunität‹ sein soll, der bei der Erschließung von neuen Forschungsfeldern vorherrscht und somit für das Verständnis der Gegenwartsliteratur gewinnbringend wäre. Ebenfalls ist es keineswegs so, dass der Glitch als Phänomen der Darstellung in Texten häufig wäre. Vielmehr ist er oftmals Teil der Handlung bzw. motiviert wichtige Höhe-und Wendepunkte der histoire.
Ein Beispiel hierfür wäre in Ernest Clines Ready Player One zu finden, wenn in etwa der Mitte des Romans die bisher so stabil und sicher erscheinende virtuelle Spielwelt OASIS ins Wanken zu kommen scheint. OASIS ist im Roman eine virtuelle Welt, in die sich die Figuren des Romans in einer nahen Zukunft flüchten, um den Folgen der massiven Umweltzerstörung zu entkommen und ihr Leben sozusagen virtuell weiterzuleben. Große Teile der Handlung spielen auch in OASIS, wobei keine wirkliche textuelle Unterscheidung zwischen der ›realen Welt‹ und der ›virtuellen Welt‹ erkennbar sind. Lediglich der Prozess des Eintauchens und Aufwachens wird erzählt, weshalb gewisse Schwellen sichtbar werden; zudem wird das Funktionsprinzip OASIS durch den Ich-Erzähler häufig erklärt, insofern manche Prozesse und Handlungen dem Leser sonst unverständlich blieben. Die Immersion in OASIS wird jedoch im Laufe des ersten Teils zusehends gestört, als sich bestimmte Unvorhersehbarkeiten des Programmcodes einstellen. Was bisher als Instanz mit klaren Verhaltensregeln, z.B. Weltabschnitten, in denen kein Player-vs-Player-Kampf möglich ist, und einem funktionierenden Ingame-Geldsystem erschien, wird durch die Anwesenheit von potenziellen Geistern bedroht:
Just then, a stack of comic books on the other side of the room slid off the end table where they were piled and crashed to the floor, as if something had knocked them over. Aech and I [die Helden des Romans, M.N.] both jumped, then exchanged confused looks.
»What the hell was that« I said.
»I don’t know.« Aech walked over and examined the scattered comics. »Maybe a software glitch or something?«
»I’ve never seen a chat-room glitch like that,« I said, scanning the empty room. »Could someone else be in here? An invisible avatar, eavesdropping on us?«
Aech rolled his eyes. »No way, Z [der Spitzname desIch-Erzählers, M.N.],« he said. »You’re getting way to paranoid. This is an encrypted private chat room. No one can enter without my permission. You know that.«
»Right,« I said, still freaked out.
»Relax. It was a glitch.« (Cline 2011, 247-248)
Dass zwischen dem Ich-Erzähler und Aech eine Uneinigkeit bezüglich der Einordnung der heruntergefallenen Comic-Hefte besteht, hat nicht so sehr einen Wert hinsichtlich der Ästhetik der Erzählung oder bestimmter Darstellungstechniken, sondern ist auf den Spannungsbogen der Handlung zurückzuführen. War die Welt am Anfang des Romans noch geordnet und schien nach bestimmten bzw. bestimmbaren Regeln zu funktionieren, setzt an der oben genannten Stelle die Heldenreise des Ich-Erzählers ein, analog zu der geschilderten Fernbusfahrt »into the lawless badlands that now existed outside of the safety of large cities« (Cline 2011, 254), wobei natürlich die Sicherheit der großen Städte seit mehreren Angriffs- und Mordversuchen seitens der antagonistischen Tech-Firma IOI nicht mehrgewährleistet ist. Dass an dieser Stelle über Glitches gesprochen wird, ist also daraus abzuleiten, dass hier symptomatisch der Zusammenbruch einer Ordnung, die selbst durch die Programme und Codes von OASIS strukturiert ist, beschrieben wird. Gerade weil dies aber über die Erzählstruktur der Heldenreise motiviert wird, erscheint der Glitch selbst als erwartbar und weniger disruptiv, als dies die Analogie zur Ambiguität eines Textes suggeriert. Vielmehr sollte er als Teil einer neuen Gattung des Videospielromans verstanden werden, die sich seit den 2010er-Jahren deutlich ausdifferenzierte und vor allem im englischsprachigen Raum vorzufinden ist (vgl. Weber 2024).
Aus meiner Sicht zeigt die Diskussion um den Glitch zweierlei: Einerseits, dass es im Feld der Gegenwartsliteratur spannende Konzepte gibt, die durchaus auch neue Impulse für die Literaturwissenschaften bereithalten können. Dies ist insofern wichtig, als sich die Literatur und ihre wissenschaftliche Erforschung in sozialen Kontexten befindet, die sie sowohl von ihnen unterscheidet als auch zu ihnen ins Verhältnis setzt. Anders gesagt: Ohne die digitalen und virtuellen Lebenswelten mit ihren Konsequenzen kann keine ausreichende Erforschung von Gegenwartsliteratur erfolgen. Dies führt andererseits jedoch zu dem Punkt, dass daraus nicht eine Deckungsgleichheit von literatur- und medienwissenschaftlichen Diskussionen und den literarischen Ausformungen folgen muss. Was manche anhand des Glitch-Konzeptes diskutieren, kann von literarischen Werken trans- und deformiert werden und umgekehrt. Verkompliziert wird die Lage auch dann, wenn Autor*innen selbst als Wissenschaftler*innen – man denke nur an Hannes Bajohr und in schwächerer Weise Juan S. Guse – auftreten und ihre Werke so in einen Nahkontakt von Wissenschaft, Literaturkritik und Schreibpraktiken bringen. Diese Beobachtung ist keineswegs neu oder originell, doch legt sie den Finger in die Wunde, wenn es um die Methoden zur Erforschung von Gegenwartsliteratur geht: Sie gemahnt uns zur Vorsicht. »Relax. It was a Glitch« kann eben zweierlei bedeuten: dass vom Glitch zwar die Rede ist, es aber doch oft nicht ganz so spannend ist, wie man als Literaturwissenschaftler*in anhand verschiedener literaturtheoretischer Konzepte gelernt hat, zu denken – und es sich doch eigentlich immer wieder erhofft.
Literatur
Augé, Marc: Nicht-Orte, übers. von Michael Bischoff, München: C.H. Beck 2010.
Cline, Ernest: Ready Player One, New York, NY: Broadway Books 2011.
Jakobson, Roman: »Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak« [1935], in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2016, S. 192-211.
Kunze, Franziska: Glitch. Die Kunst der Störung, Berlin: Distanz 2023.
Moll, Björn und Philipp Weber: »Kritik der Simulationen. Juan S. Guses Miami Punk«, in: Mackasare, Manuel (Hrsg.): Zukunftswissen?, Berlin/Heidelberg: Springer 2023, S. 331–353.
Ohnesorge, Philipp und Eckhard Schumacher: Glitches – Verfahrend der Ambiguitätsproduktion in der Gegenwartsliteratur. In: Meissner, Janneke – Ohnesorge, Philipp –Schumacher, Eckhard – Trösch, Jodok (Hrsg.): Bildbruch. Beobachtungen an Metaphern. Ausgabe 5, Frühjahr 2023 zum Thema »Glitches«, S. 8–16.
Setz, Clemens J. »Die Poesie der Glitches«, online: <https://www.logbuch-suhrkamp.de/clemens-j-setz/die-poesie-der-glitches/> o.J. [11.08.2025].
Weber, Philipp: »Videospiel und Roman«, in: Merkur, online: <https://www.merkur-zeitschrift.de/2024/12/13/videospiel-und-roman/> [11.08.2025].
Zymner, Rüdiger: »Poetizität«, in: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Darmstadt: WBG 1992 ff., Bd. 10 (2011), Sp. 900–907.