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Digitale Rollenspiele und strukturale Medienbildung als Impulsgeber für virtuelle Hochschuldidaktik

DiVe – Didaktik und Virtualität erfahren | 10/2025

Ariyan Arslan

15. Oktober 2025

Digitale Rollenspiele und strukturale Medienbildung als Impulsgeber für virtuelle Hochschuldidaktik

Das »Virtuelle« der virtuellen Hochschuldidaktik ist vielfältig gestaltbar. Während bisherige Beiträge der Reihe DiVe auf den Einsatz sogenannter Künstlicher Intelligenz oder die Implementierung von Erklärvideos eingingen, widmet sich dieser Beitrag digitalen Rollenspielen im hochschuldidaktischen Kontext. Der Forschungsstudent Ariyan Arslan hat seine Bachelorarbeit zum Thema »Bildungspotenziale digitaler Rollenspiele: Eine strukturale Medienanalyse von Baldurs Gate 3« verfasst und führt das Thema aus.

Welche Bildungspotenziale können digitale Rollenspiele in der Hochschullehre entfalten?

Hochschuldidaktische Kontexte sind für Studierende vor allem am Anfang des Studiums mit Ungewissheit, Unwissen und Unbestimmtheit konnotiert. Im Laufe des Studiums lernen sie jedoch didaktische Ansätze und Methoden kennen. Digitale Rollenspiele als exemplarische Struktur können nicht auf alle offenen Fragen eine Antwort liefern, aber sie können helfen, eine produktive spielerische Haltung dem gegenüber zu entwickeln. Die Erziehungswissenschaftler Jörissen und Marotzki (2009) sprechen dabei von einer tentativen und reflexiven Haltung. Durch ihre komplexen ludischen und narrativen Strukturen sowie erkundbaren Spielwelten können Rollenspiele dahingehende Transformationsprozesse unterstützen.

Studierende, aber auch Teilnehmende an hochschuldidaktischen Veranstaltungen[1] können virtuelle Umgebungen entdecken, Quests lösen oder Experimente im Spiel wagen, was Neugier und intrinsische Motivation ansprechen und einen spielerischen Zugang zu Unbestimmtheit bieten kann. Im Verlauf eines narrativen Spiels müssen Lernende z.B. ethische Entscheidungen treffen, strategische Überlegungen anstellen oder in Dialogen mit virtuellen Charakteren agieren. Da Rollenspiele keinen einzelnen »richtigen« Lösungsweg vorgeben, lernen die Beteiligten, dass unterschiedliche Entscheidungen zu unterschiedlichen (oft unvorhergesehenen) Ergebnissen führen können. Darin drückt sich eine Pluralität von Deutungsrahmen aus, die erfahrbar wird, wenn Spielende alternative Wege testen oder wenn sie aus unerwünschten Spielfolgen lernen und ihre Vorgehensweise anpassen. Die Unvorhersehbarkeit des Spielverlaufs und die daraus resultierenden Irritationen spiegeln die Unbestimmtheit wider, mit der Lernende umgehen lernen müssen und weisen auf die Relativität und Grenzen des Wissens hin. Diese Irritationen können bspw. die Reflexion der Faktizität und Seriosität neuer Informationen sowie die Legitimität bestehenden Wissens und Wertestrukturen forcieren.  

Neben den Explorationsmöglichkeiten und deliberativen Elementen begünstigen auch die Optionen zur Rollenübernahme und zum Perspektivwechsel Fremdheitserfahrungen und ein daraus resultierendes Bewusstsein bzgl. der Relativität der eigenen Weltsicht. Wird dieses Potential (hochschul-)didaktisch geschickt eingesetzt, können digitale Rollenspiele als interaktive Erfahrungsräume in eine reflexive akademische Praxis eingebettet werden und so Orientierungs- und Transformationsprozesse im Sinne der Bildung anstoßen.

Welche Anlässe kann Hochschuldidaktik bieten, um die Reflexion eigener Wissensbestände mithilfe digitaler Rollenspiele zu ermöglichen?

Kritische Denk- und Reflexionsfähigkeiten sind sowohl im Studium als auch in der hochschuldidaktischen Arbeit unerlässlich. Digitale Rollenspiele können Anlässe bieten, die Lernenden mit Problemsituationen zu konfrontieren, in denen eigene und fremde Wissensbestände bewusst irritiert werden. Jörissen und Marotzki sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass mediale Artikulationsräume neue Gelegenheiten für Bildungs- und Orientierungsprozesse bieten. In einem virtuellen Szenario können Lernende z.B. Wissen anwenden und die Folgen evaluieren und bewerten. Misslingt eine Problemlösung oder tritt ein unerwartetes Ergebnis ein, wird den Lernenden deutlich, wo Lücken oder Fehlkonzepte in ihrem Verständnis liegen. Irritationen und Fremderfahrungen fungieren als Auslöser von Bildungsprozessen.

In der Praxis der Hochschullehre sowie im Rahmen hochschuldidaktischer Kurse gibt es verschiedene Anwendungsmöglichkeiten, um solche Reflexionsanlässe mit digitalen Rollenspielen zu gestalten.

Digitale Rollenspiele können nur dann ihr volles (hochschul-)didaktisches Potential entfalten, wenn Reflexion als integraler Bestandteil eingeplant wird. Andererseits bieten sie selbst eine Vielzahl an Elementen, die Reflexion forcieren können. Virtuelle hochschuldidaktische Kontexte können sich die Erfahrungen aus den digitalen Rollenspielen zunutze machen und davon ausgehend Diskussionen über Wahrheitsgehalt, Quellenkritik und epistemische Grenzen anregen. Damit wird das Spiel zum Anlass, Wissenschaft als reflexive Praxis zu begreifen, bei der Wissen stets kontextgebunden ist.

Inwiefern ist die Perspektive der strukturalen Medienbildung anschlussfähig für eine virtuelle Hochschuldidaktik?

Die Perspektive der strukturalen Medienbildung nach Jörissen und Marotzki ist für die virtuelle Hochschuldidaktik anschlussfähig, da sie einen theoretischen Rahmen liefert, um digitale Lehr-Lern-Angebote als Bildungsräume zu verstehen und zu gestalten. Zentral ist die Erkenntnis, dass nicht nur der Inhalt, sondern vor allem die Form des Mediums die Reflexionsmöglichkeiten prägt, die ein Bildungsprozess bietet. In der Lehre müssen Lehrende daher die Strukturen des jeweiligen Mediums bewusst miteinbeziehen. Dabei werden die Medien (hier digitale Rollenspiele) im Kontext virtueller Hochschuldidaktik zu aktiven Akteuren des Lernens. Die Perspektive der strukturalen Medienbildung hilft Lehrenden in der virtuellen Hochschullehre zu erkennen, welches Medium welche Art von Bildungsprozess fördert, und wie man Medien gezielt einsetzt, um potenzielle Orientierungs- und Transformationsprozesse bei Lernenden anzustoßen.

Des Weiteren ist in den Kontexten der strukturalen Medienbildung und der virtuellen Hochschuldidaktik der Reflexionsbegriff von zentraler Bedeutung. Virtuelle Hochschuldidaktik kann dies aufgreifen, indem sie Lernsituationen gestaltet, in denen Lernende ihr Verhältnis zur Welt im Medium erkunden und unterschiedliche Standpunkte einnehmen (etwa durch Avatare). Dies erlaubt Lernenden eine eigene Distanzierung und Befremdung durch Rollenspielen, was das Bewusstsein bzgl. der Relativität ihrer eigenen Perspektive begünstigt. Ein Lehrkonzept, das auf strukturaler Medienbildung basiert, plant virtuelle Szenarien so, dass Lernende darin explizit mit Wahrnehmungs- und Perspektivwechseln und der Begrenztheit eigener Wissensbestände konfrontiert werden. Zudem lassen sich durch digitale Rollenspiele Lernsettings erzeugen, die in Präsenz schwer zu realisieren wären.

Indem die virtuelle Hochschuldidaktik Lernenden die Gelegenheit gibt, in simulierten Welten den Umgang mit Komplexität zu üben ,können sie erfahren, wie sich ihre Orientierungsrahmen erweitern oder verschieben, wenn sie mit neuen Situationen konfrontiert werden. Für Lehrende in der virtuellen Hochschullehre heißt das: Sie können Lernsituationen gestalten, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern gezielt Irritationen einbauen, um die Lernenden zur Neuorientierung anzuregen. Gemäß dem Konzept der strukturalen Medienbildung muss Bildung auch beim Aufbau von Fakten- und Orientierungswissen Raum für Unbestimmtes bieten. Eine virtuelle Hochschuldidaktik nach diesem Prinzip würde also Wert darauf legen, Offenheit und Mehrdeutigkeit in Lernaufgaben zuzulassen, z.B. durch Szenarien mit mehreren gangbaren Lösungswegen oder Forschungsansätze, bei denen Lernende eigene Lösungsansätze erproben. Sie üben sich darin, tentativ ohne vollständige Gewissheit zu agieren, Hypothesen zu testen und bei Scheitern spielerisch umzudenken.

Schließlich ermöglicht die Perspektive der strukturalen Medienbildung der virtuellen Hochschuldidaktik auch einen reflexiven Blick auf sich selbst. Da diese Theorie die mediale Bedingtheit von Bildungsprozessen betont, werden Hochschullehrende sensibilisiert, ihre eigenen digitalen Lehrpraktiken zu hinterfragen. So stellt sich bspw. die Frage, ob ein digitales Format Reflexion und Teilhabe ermöglicht oder ob es nur traditionelle Formate digital imitiert. In der Orientierung an offenen Situationen, dem reflexiven Umgang mit Wissen, der Bereitschaft zum Ausprobieren und dem kritischen Hinterfragen liegen somit erste Anschlussmöglichkeiten. Digitale Rollenspiele fungieren somit als reflexive, interaktive Erfahrungsräume, in denen Lernende orientierungsrelevante Erfahrungen machen und transformative Bildungsprozesse durchlaufen können. Wenn wir virtuelle Lehr-Lern-Settings mit dem Bewusstsein gestalten, dass Medium und Bildung zusammengehören, können wir Lernende dabei unterstützen, zu selbstreflexiven Akteur*innen ihrer eigenen Bildungsprozesse zu werden – online wie offline.

Ariyan Arslan ist Student der Erziehungswissenschaft und Philosophie. Er ist seit 07/2021 als Hilfskraft am Arbeitsbereich Soziale Räume und Orte des non-formalen und informellen Lernens (Prof.‘in Dr.‘in Sandra Aßmann) tätig sowie Forschungsstudent im SFB 1567 Virtuelle Lebenswelten und unterstützt dort im Teilprojekt C01 Essen in der virtuellen Lebenswelt.

Literatur:
Jörissen, Benjamin/Marotzki, Winfried (2009): Medienbildung – eine Einführung. Theorie, Methoden, Analysen, Stuttgart: UTB.

 

 [1] Im Folgenden werden beiden Gruppenunter dem Begriff »Lernende« subsumiert.

ChatGPT wurde als Hilfsmittel zur Überarbeitung der Formulierungen genutzt.

Zu DiVe

DiVe ist der Blog des Didaktikstudios. Wir berichten über Lehrerfahrungen des SFB mit Blick auf die Nutzung von Virtualität. Der Blog erscheint alle zwei Monate und widmet sich sowohl innovativen Lehr- und Lernmethoden als auch konkreten Praktiken im Kontext virtueller Hochschuldidaktik. Es werden didaktische Vorgehensweisen mit virtuellen Tools vorgestellt und Veranstaltungsberichte veröffentlicht. Hauptautorin ist Raphaela Gilles, je nach thematischem Fokus wechselt die Autor*innenschaft hin zu Mitgliedern des SFB sowie externen Beitragenden. Bei Fragen und Ideen schicken Sie gern eine Mal an raphaela.gilles[at]rub.de.