DiVe – Didaktik und Virtualität erfahren | 08/2025
Jonas Leschke
Die Frage »Wieso studieren?« haben sich hoffentlich schon alle Studierenden einmal gestellt. Die Antworten auf diese Frage sind sicherlich vielfältig und haben mindestens teilweise etwas mit dem Wunsch nach der späteren beruflichen Tätigkeit zu tun. Durch das Studium erlangen Studierende schließlich unter anderem die für den jeweiligen Beruf notwendigen fachlichen und überfachlichen Kompetenzen. Der Abschluss stellt für bestimmte Berufe oder Positionen die notwendige formale Qualifikation dar, die in Deutschland auch bei der Personalauswahl noch immer eine wichtige Rolle spielt.
Mit Blick auf den globalen Arbeitsmarkt sind allerdings vermehrt Personalgewinnungsprozesse zu beobachten, die weniger die formale Qualifikation für eine erfolgreiche Bewerbung voraussetzen als den Nachweis der erforderlichen Kompetenzen (Hancock 2022; PwC 2025). Ob diese Kompetenzen in zertifizierenden Stellen erworben wurden, durch berufliche oder private Tätigkeiten oder Interessen, das ist weniger wichtig (Stein 2023). Die Auswahl der Mitarbeitenden erfolgt beispielsweise durch Assessmentcenter, der Anstellung vorgelagerter Praktika oder Traineeprogramme. Fehlende, aber für die spezifische Tätigkeit notwendige Kompetenzen werden durch unternehmenseigene Weiterbildungen gefördert. Assessment- und Weiterbildungszentren sind auch in Deutschland keine Seltenheit mehr. Teilweise fordern Arbeitgeber*innen in Ausschreibungen bereits kompetenzorientierte Bewerbungsunterlagen ein, die nicht ausschließlich überformale Qualifikationen nachgewiesen werden müssen.
Wenn sich Studierende also heute und in Zukunft die Frage stellen, wieso sie sich für ein Studium entscheiden sollten, dann müssen Hochschulen auch für diejenigen Studierenden eine Antwort bereithalten, die sich bisher aufgrund eines konkreten Berufswunsches für ein Studium entscheiden. Diese Notwendigkeit könnte durch KI-Tools noch einmal verschärft werden. Dazu mehr im nächsten Abschnitt.
Seit dem Aufkommen frei verfügbarer KI-Tools gibt es vielfältige Diskussionen um deren Bedeutung für das Hochschulstudium. Neben der Frage, wie Prüfungen valide durchgeführt werden können oder welche KI-Kompetenz Studierende erlangen müssen, wird diskutiert, wie Lehrende mit dem Einsatz generativer KI-Tools die eigene Lehre planen oder den Studierenden Feedback auf ihre Lernprodukte (bspw. schriftliche Abgaben) geben können (Presseinformation Uni Göttingen 2025; Offener Prompt-Katalog; Kirschbaum 2025). In den USA hat zuletzt eine Studentin ihre Studiengebühren zurückgefordert, da ihr Professor vermeintlich ohne zusätzliche Prüfung einen Chatbot zur Vorbereitung der Kursunterlagen eingesetzt hat (Hill 2025). Dabei sind beide Handlungen nachvollziehbar. Der Professor möchte möglichst zeiteffizient seine Lehre vorbereiten, um die »wertvolle Forschungszeit« nicht übermäßig zu strapazieren. Die Studentin zahlt hingegen für qualitativ hochwertige Lehre Studiengebühren und erwartet eine Gegenleistung, die über einen Austausch mit einem Chatbot hinausgeht.
Der Einsatz entsprechender KI-Tools zur Lehrvorbereitung lässt sich gleichermaßen für die berufsbegleitende Weiterbildung diskutieren: Wie können beispielsweise Unternehmen KI-Tools einsetzen, um bedarfsspezifisch die Entwicklung der Kompetenzen ihrer Mitarbeitenden zu fördern? Denn wenn schon an Universitäten, also dem Ort höchster formaler Bildung, über einen entsprechenden Einsatz diskutiert wird bzw. dieser nachweislich stattfindet, dann können auch Unternehmen diese Möglichkeit nutzen. So müssen sie keine teuren Weiterbildungszentren betreiben oder Weiterbildungen extern einkaufen und auch mittlere und kleine Unternehmen können ihren Mitarbeitenden entsprechende Angebote zur bedarfsspezifischen Weiterbildung durch einen individuellen Selbstlernkurs mit Texten, Quizzen und Videos bieten. Der integrierte Chatbot könnte dann zudem direkt inhaltliche Fragen beantworten und bei Bedarf direkt noch ein weiteres erklärendes Video zu dem Thema generieren.(Erdner 2024; Költringer 2025; McFarland 2025)
Nutzen in einem Szenario Lehrende didaktisch unreflektiert frei verfügbare KI-Tools zur Vorbereitung und Durchführung der eigenen Lehre oder setzen Unternehmen noch stärker auf die Weiterqualifizierung des eigenen Personals durch die Möglichkeiten, die ihnen KI-Tools bieten, dann sind Hochschulen umso mehr gefordert den Wert eines Studiums gegenüber Studierenden, aber auch den zukünftigen Arbeitgeber*innen der Studierenden erklären zu können.
Der Wert des Hochschulstudiums
Was ist also der Mehrwert für Arbeitgeber*innen, Mitarbeitende mit Bachelor, Master oder gar Promotionsabschluss einzustellen? Wieso sollten sie die für die Tätigkeit benötigten Kompetenzen der Mitarbeitenden nicht ausschließlich selbst fördern und die Mitarbeitenden somit mehrere Jahre früher produktiv in die Wertschöpfungskette einbinden? Wie kann das Hochschulstudiumin der Zukunft mehr als nur ein Selbstzweck sein?
Sicherlich ist ein Studium heute und auch in Zukunft mehr als nur eine fachliche Qualifikation. Studierende erlangen beispielsweise überfachliche Kompetenzen und werden in den Denkweisen und dem Habitus eines Faches sozialisiert. Sie knüpfen Kontakte und können ein Netzwerk auch für ihre berufliche Zukunft aufbauen. Sie erhalten die Möglichkeit sich zu bilden und persönlich weiterzuentwickeln. Sie können mit ihrem Außenblick neue Impulse in einem Unternehmen setzen. Aufgrund der zuvor beschriebenen Möglichkeiten durch KI müssen Hochschulen aus meiner Sicht diese Werte stärker in den Vordergrund rücken und für Studierende erfahrbar machen. Das Hochschulstudium muss hierfür – auch in der Außenwahrnehmung – mehr als ein durch strukturelle und finanzielle Vorgaben verschultes, getaktetes und Kompetenzen zertifizierendes Pflichtprogramm sein (Winter 2015) um Studierende, in der für die Finanzierung des Hochschulbetriebs erforderlichen Anzahl, für ein Studium gewinnen zu können. Ein Potenzial könnte darin liegen, dass die Reputation von Hochschullehrenden stärker über die Qualität ihrer Hochschullehre hergestellt wird und Betreuungsschlüssel reduziert werden. Denn die individuelle, menschliche Betreuung im Lern- und Sozialisationsprozess ist etwas, das KI-Tools heute noch nicht können.
Literatur
Erdner, Marvin (2024): Mache dein Wissen zu Geld – So kannst du einen eigenen Onlinekurs erstellen, in: omr.com (18.10.2024), online unter: https://omr.com/de/reviews/contenthub/online-kurs-erstellen (letzter Zugriff: 23.07.2024).
Hancock, Bryan et al. (2022): Taking a skills-based approach to building the future workforce, in: mckinsey.com (15.11.2022), online unter: https://www.mckinsey.com/capabilities/people-and-organizational-performance/our-insights/taking-a-skills-based-approach-to-building-the-future-workforce (letzter Zugriff: 23.07.2025)
Hill, Kashmir (2025): The Professors Are Using ChatGPT, and Some Students Aren’t Happy About It, in: nytimes.com (14.05.2025), online unter: https://www.nytimes.com/2025/05/14/technology/chatgpt-college-professors.html?mj_campaign=nl_ref&mj_content=zeitde_text_link_x&mj_medium=nl&mj_source=int_zonaudev_Nat%C3%BCrlich%20intelligent (letzter Zugriff: 23.07.2025).
Kirschbaum, Sandra (2025): IMAGINE – COFFEE weiß, worauf es in der Prüfung ankommt, in: fernuni-hagen.de (06.06.2025), online unter: https://www.fernuni-hagen.de/forschung/schwerpunkte/catalpa/aktuelles-termine/aktuelles/RollOut_Impact.shtml (letzter Zugriff: 23.07.2025).
Költringer, Christian (2025): Wie Du Online-Kurse mit Hilfevon künstlicher Intelligenz (ChatGPT) schneller und effektiver erstellst, in: 365digital.de (04.02.2025), online unter: https://365digital.de/online-kurse-mit-ki-chatgpt-erstellen/ (letzter Zugriff: 23.07.2025).
McFarland, Alex (2025): Die 7 besten KI-Plattformen zur Erstellung von Online-Kursen (Juli 2025), in: unite.ai (01.07.2025), online unter: https://www.unite.ai/de/best-ai-online-course-creation-platforms/ (letzter Zugriff: 23.07.2025).
Offener Prompt-Katalog, in: coda.io (o.D.), online unter: https://coda.io/@kic/prompt-katalog (letzter Zugriff: 23.07.2025).
Presseinformation Uni Göttingen (2025): KI unterstütztes Tutoring und individuelle interdisziplinäre Bildungswege, Nr 80, in: uni-goettingen.de (16.05.2025), online unter: https://www.uni-goettingen.de/de/3240.html?id=7799 (letzter Zugriff: 23.07.2025).
PwC (2025): The Fearless Future: 2025 Global AI Jobs Barometer, online unter: https://www.pwc.com/gx/en/issues/artificial-intelligence/job-barometer/2025/report.pdf (letzter Zugriff: 23.07.2025)
Stein, Johanna (2023): Kompetenzen ohne Zertifikate – So punkten Bewerber mit all ihren Fähigkeiten, in: welt.de (13.03.2023), online unter: https://www.welt.de/wirtschaft/karriere/article244192483/Bewerbung-So-punkten-Sie-mit-Kompetenzen-ohne-Zertifikate.html#:~:text=Manche%20F%C3%A4higkeiten%20kann%20man%20nicht%20direkt%20mit,privat%20erworbene%20Sprachkenntnisse%20trotzdem%20den%20Ausschl (letzter Zugriff: 23.07.2025).
Winter, Martin (2015): Bologna – die ungeliebte Reform und ihre Folgen, in: bpb.de (31.03.2015), online unter: https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/204075/bologna-die-ungeliebte-reform-und-ihre-folgen/ (letzter Zugriff: 23.07.2025).
Jonas Leschke leitet die Stabsstelle Strategische Lehrprojekte am Zentrum für Wissenschaftsdidaktik der Ruhr-Universität Bochum. Er ist unter anderem für die KI-Projekte KI:edu.nrw und AIStudyBuddy verantwortlich. Weitere Infos.
Zu DiVe
DiVe ist der Blog des Didaktikstudios. Wir berichten über Lehrerfahrungen des SFB mit Blick auf die Nutzung von Virtualität. Der Blog erscheint alle zwei Monate und widmet sich sowohl innovativen Lehr- und Lernmethoden als auch konkreten Praktiken im Kontext virtueller Hochschuldidaktik. Es werden didaktische Vorgehensweisen mit virtuellen Tools vorgestellt und Veranstaltungsberichte veröffentlicht. Hauptautorin ist Raphaela Gilles, je nach thematischem Fokus wechselt die Autor*innenschaft hin zu Mitgliedern des SFB sowie externen Beitragenden. Bei Fragen und Ideen schicken Sie gern eine Mal an raphaela.gilles[at]rub.de.