Ein Subjekt, das eine dritte Person ist, die eine erste Person ist
Armin Schäfer
Entstehungsgeschichte – Was ist der/die/das Lookalike?
Der Schriftsteller Thomas Meinecke hat als Titel für seinen Roman Lookalikes (2011) einen Terminus gewählt, den das Oxford English Dictionary wie folgt erläutert: »A person who or thing which closely resembles another in appearance; esp. someone who is very similar in appearance to a famous person.« (OED 1.a.) Das Substantiv dient ferner zur Bezeichnung einer Person, die ihre Ähnlichkeit mit Dritten in professioneller Weise einsetzt: »A person who professionally imitates a (specified) celebrity.« (OED 1.b.) Schließlich bezeichnet »Lookalikes« auch Drogen, die wie alltägliche Tabletten oder andere Pillen aussehen, oder Tabletten und Pillen, die den Darreichungsformen von Drogen ähneln. Die Definitionen, die auf Personen abstellen, sind weniger an dem Gebrauch des Worts in literarischenTexten als vielmehr an der Sichtbarkeit von Lookalikes im Alltag orientiert. Literatur aber hat ihr primäres Medium in der Sprache selbst, so wie es auf dem Rückumschlag von Meineckes Buchs heißt: »Düsseldorf, Königsallee: Menschen, die sich Justin Timberlake, Josephine Baker und Serge Gainsbourg nennen, flanieren über das Trottoir. Sie sind Lookalikes, haben sich bei einschlägigen Agenturen registrieren lassen und sind damit beschäftigt, ihre Ähnlichkeit mit diesen Berühmtheiten produktiv zu machen.« (Meinecke 2011, U4)
Meineckes Roman, der die Lookalikes ins Medium der Sprache holt, lässt an ihnen anderes und mehr sichtbar werden, als Ähnlichkeiten zwischen mehr oder minder berühmten Personen. Er klammert das hauptsächliche visuelle Kriterium ein, das sie zuallererst definiert, insofern literarische Figuren nicht unmittelbar ins Register der Sichtbarkeit eintreten, sondern der Roman es bei einer ausgesagten Visualität und Ähnlichkeit belässt, die ohnehin nicht das entscheidende Kriterium ist. Lookalikes erschöpfen sich keineswegs in Aspekten von Ähnlichkeit, sondern provozieren zur Analyse von Race, Class und Gender, von Handlungsmacht, der Performanz von Posen und Blicken und den Zuschreibungen, die den Personenstand machen.
Kompetenzen – Was kann der/die/das Lookalike?
In literaturwissenschaftlicher Perspektive besitzen Lookalikes eine lange Vorgeschichte. Die Literatur nutzte Spielarten der Doublierung – literarische Figuren, die Zwillinge oder andere Spielarten von Doppelgängern waren oder auch im Rollenspiel sich verkleideten und verstellten –, um über die Eigenarten literarischer Fiktionsbildung (Luhmann 1995, 465f.) und das Verhältnis von fiktiven Figuren und Menschen nachzudenken. Denn die Frage »Welcher Zwilling ist das Original?« führt auf Relationen, die den drögen Diskurs der Identitätsfeststellung fliehen und Antworten erlauben wie zum Beispiel, dass Zwillinge mehr als einer und weniger als zwei sind. (Meyer 2022, 12)
Auch wenn Lookalikes in der Lebenswelt des 21. Jahrhunderts verankert sind, sind sie ohne die literarischen Doppelgänger des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts kaum zu begreifen. Als Jean Paul in einer Fußnote seines Romans Siebenkäs Doppelgänger als »Leute, die sich selber sehen« (Jean Paul 1796, 70), definierte, schlug er einen impliziten Wechsel der Perspektive vor, unter der die Doublierung in den Blick gerät, und unterschied den Blick eines Betrachters, der eine Ähnlichkeit zwischen Leuten bemerkt, vom Blick eines Subjekts, das im anderen sich selber sieht, um sich sodann als Doppelgänger zu erkennen. In diesem Fall ist das Subjekt selbst Teil einer Art Versuchsanordnung, in der es auf den anderen blickt, eine Ähnlichkeit feststellt oder inszeniert und darüber zum Subjekt einer Doublierung wird.
Der Schwenk von der Frage »Was ist der Doppelgänger?« zu »Wer erkennt wen als seinen Doppelgänger?« rückt den Diskurs über literarische Figuren nicht zuletzt an eine vordigitale Virtualität heran. Im Lichte des Begriffs Virtualität treten an Doppelgängern in der Literatur zum einen Aspekte hervor, die in den Lookalikes des 21. Jahrhunderts fortgesetzt und gesteigert werden: Literarische Figuren in Fiktionen sind unterbestimmt und besitzen auch Eigenschaften und Merkmale virtueller Objekte. Zum anderen führt der Umweg über die literarische Fiktion von Lookalikes zu einem Typus des Subjekts, das eine dritte Person ist, die eine erste Person ist.
Die Unterscheidung zwischen einem Subjekt, das Dritte als Doppelgänger identifiziert, und einem Subjekt, das sich selbst wie eine dritte Person ansieht, um einen Doppelgänger zu erkennen, greift für lesende Subjekte zu kurz. Die literarische Fiktion ist ein privilegierter Ort, an dem die Diskrepanz zwischen den Perspektiven einer ersten und dritten Person überbrückt werden kann. Im Alltag ist das – virtuelle – Spiegelbild dasjenige Instrument, mit dem für die eigene Person diese Diskrepanz erfahren werden kann. Es erlaubt die Position eines äußeren Betrachters einzunehmen und zwischen Selbstwahrnehmung und äußerer Erscheinung zu vermitteln. Die Literatur, die erzählt, kann eine dritte Person hinstellen, die sie wie eine erste Person behandelt, indem sie etwa Einblicke in deren Bewusstsein gibt; sie kann eine erste Person hinstellen, die sie wie eine Dritte behandelt; sie kann ein komplexes Spiel eröffnen und Figuren zwischen den Perspektiven erster und dritter Personen oszillieren lassen.
Erkenntnisse – Was zeigt der/die/das Lookalike?
Das Substantiv »lookalike« bezeichnet eine Spielart der Doublierung, die hauptsächlich im visuellen und performativen Register statthat und im Akt der Benennung einer Person fortgesetzt und ergänzt wird. Die Definition, die das Wörterbuch aufstellt, impliziert, dass es ein logisches oder sachliches Primat oder auch eine Vorgängigkeit gebe, die den Unterschied zwischen einem Original und seiner Erscheinung oder seiner Imitation begründet. Die literarische Fiktion schärft, indem sie Lookalikes hinstellt, den Blick auf die eigentümliche Existenzweise literarischer Figuren und deren Verhältnis zur Wirklichkeit. Vor allem die Annahme, dass der Menschen ein außerliterarischer Rohstoff sei, der in der Fiktion zur Figur veredelt werde, blockiert ein besseres Verständnis. Literarische Figuren sind nämlich nicht in gleicher Weise wie Menschen im Alltag Personen. Sie sind weder von ihrem narrativen Gemacht-Sein noch von ihrer Fiktivität abzulösen, und ihr Werden ist auch in der Literatur ohne die Spielregeln, die im Alltag die Institutionalisierung von Menschen als Personen bestimmen, nicht zu begreifen. (Schäfer 2023) Insofern verdienen Doppelgänger und Lookalikes besonderes Interesse. Sie sind keine Sonderfälle, sondern demonstrieren, dass einfach geschnittene Unterscheidungen von Fiktion versus Wirklichkeit nicht geeignet sind, um die Eigenart literarischer Figuren zu fassen.
Der/die/das Lookalike zieht, wie die literarische Figur des Doppelgängers, von einem realen Subjekt etwas ab, das als Ähnlichkeit gesehen und erkannt wird, und dieser abgezogene Teil gewinnt sein Eigenleben in der Doublierung. Er/sie/es ist als ein virtuelles Objekt zu begreifen, dem zwar Eigenschaften und Merkmale des Originals fehlen (wie man im Blick auf ihn/sie/es bemerken kann), die aber für seine Wahrnehmung nicht ausschlaggebend sind: Man kann über die offensichtlichen Unterschiede zwischen Lookalikes, die zweifellos bestehen, hinwegsehen und ungeachtet von Skalierung, Reproduktion und Medium auf die Relationen zwischen ihnen achten. Und der/die/das Lookalike ist ein virtuelles Objekt für sich selbst (wie er/sie/es beim Blick in den Spiegel sieht), dem stets seine andere Hälfte fehlt, dem es ähnlich ist. Auch wenn der/die/das Lookalike als ein virtuelles Objekt aufgefasst wird, ist die Beziehung, die er/sie/es zum Original unterhält, kein bloßer Mangel. Was dem virtuellen Objekt fehlt, ist ja keine Substanz, die seiner Erscheinung größere Dignität verleihen könnte, sondern seinem Wesen nach ist es immer nur Hülle, Teil und Abstraktion und – in der deutschen Sprache – immer mit einer geschlechtlichen Markierung versehen.
Der/die/das Lookalike ist ein Sonderfall fiktiver literarischer Figuren, der ihren grundlegenden Zug demonstriert. Die Fiktivität einer literarischen Figur kann zwar in ihrer Relation zur Wirklichkeit bestimmt werden, aber bleibt in der Spezifik ihrer Bezugnahmen selbst noch zu bestimmen. Insofern die Erzählfiktion es nämlich erlaubt, die Subjektivität einer dritten Person wie einer ersten hinzustellen, liefern literarische Figuren das basale Modell für die Erfahrung beim Eintritt in eine virtuelle Realität.
Quellen
Jean Paul, Sämtliche Werke. Abteilung 1, Band 2: Siebenkäs. Flegeljahre, hrsg.von Nobert Miller, München, Wien: Carl Hanser, 1987.
Jean Paul, Blumen-, Frucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F.St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel. Erstes Bändchen, Berlin: Carl Matzdorff, 1796.
Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995.
Thomas Meinecke, Lookalikes. Roman, Berlin: Suhrkamp, 2011.
James Meyer with W.J.T. Mitchell, Andrew Solomon, Julia Bryan-Wilson, Shaw Michelle Smith. Tom Gunning, Hillel Schwartz, The Double. Identity and Difference in Art since 1900, Princeton (NJ), Oxford: National Gallery of Art, Washington, Princeton University Press, 2022.
»Lookalike, N., Sense 1.a.«, in: Oxford English Dictionary, Oxford UP, July 2023, https://doi.org/10.1093/OED/6255863301. [OED 1.a.]
»Lookalike, N., Sense 1.b.«, in: Oxford English Dictionary, Oxford UP, July 2023, https://doi.org/10.1093/OED/2302333532. [OED1.b.]
Armin Schäfer, »Was sind literarische Figuren? Neue Beiträge der Forschung«, in: Monatshefte 115:1 (2023), S. 81–93.
Weiterführende Literatur
Emile Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, Frankfurt a.M.: Syndikat, 1977.
Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen von Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink, 1992.
Fotis Jannidis, Figur und Person. Beiträge zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York: De Gruyter, 2004.
Marcel Mauss, »Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des ›Ich‹.«, in: ders., Soziologie und Anthropologie. Band II: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Körpertechniken, Begriff der Person, Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein, 1978, S. 221–252.
Das Virtuelle Objekt des Monats
Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein »Virtuelles Objekt des Monats« (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 »Virtuelle Lebenswelten« vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.
Das »Virtuelle Objektdes Monats« ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.